Wenn ich in alten Kisten wühle, ahne ich selten, dass sie mir den Atem rauben werden.
Doch an einem Abend im Oktober geschah genau das.
Zwischen vergilbten Fotos und vergessenen Briefen tauchte sie wieder auf – meine Urgroßtante Adele Jäger, die alle nur „Tante Dele“ nannten.
Eine Frau, die mich als Baby noch gekannt hat, die mich zärtlich „mein kleiner Sonnenschein“ nannte – und deren Lebensspuren mich nun plötzlich mitten ins Herz trafen.
✨ Junge Jahre – die Leichtigkeit vor dem Sturm
Auf einem alten Foto blickt mir eine junge Frau entgegen: 21 Jahre alt, fein gekleidet, neugierig, ein Lächeln, das zugleich Stolz und Zuversicht verrät.
Dieses Porträt wurde wohl um 1906 aufgenommen – in einer Zeit, in der sie als angehende Putzmacherin in Essen arbeitete oder vielleicht gerade auf Lehrgang war.
Man spürt den Aufbruch: die Freude am Handwerk, am Leben, an der eigenen Zukunft.
Ein zweites Foto zeigt sie einige Jahre später am Meer – vermutlich an der Ostsee, vielleicht in Misdroy.
Dele steht mit Freundinnen oder ihren Geschwistern lachend am Strand, die Haare vom Wind zerzaust, das Kleid leicht, der Himmel weit.
Es ist ein seltenes Bild weiblicher Unbeschwertheit aus jener Zeit – ein Sommer, bevor Europa sich veränderte.


🕊️ Erster Weltkrieg – Sanatorium und Pflichten
In den Kriegsjahren führte das Leben sie an Orte, von denen heute nur noch alte Postkarten erzählen.
Auf einer Aufnahme aus 1915 sieht man Dele in einem Garten mit weißen Gebäuden im Hintergrund – ein Sanatoriumsort, wahrscheinlich Bad Sülzhayn im Harz.
Dort arbeitete sie zeitweise, möglicherweise im Umfeld einer Heilanstalt oder als Helferin, wie viele Frauen ihrer Generation.
Auch hier trägt sie Haltung, Ruhe, Würde – mitten im Wandel der Zeit.

🧵 Ein Leben zwischen Hutnadeln und Herzenswärme
Zurück in Frieden und Alltag gründete sie später ihr eigenes Geschäft:
Ein Atelier und Putzgeschäft in Wernigerode, das sie gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Berta Wilde führte.
Berta und Dele – das war ein Team fürs Leben, im Beruf wie im Alltag.
Als ihre Schwester starb, nahm Dele die Nichte Charlotte („Lotte“) Roth bei sich auf, sorgte für ihre Ausbildung und blieb auch später für deren Tochter Margrit – meine Mutter – und schließlich für mich ein fester Halt.
🔥 Zweiter Weltkrieg – Mut im Angesicht der Zerstörung
Ein anderes Foto zeigt ein ganz anderes Essen: zerbombte Straßen, ausgebrannte Häuser, Rauch in der Ferne.
Hier hat Dele gelebt – in der Daimlerstraße in Essen-Bredeney.
Sie blieb, half, organisierte, arbeitete für die Stadtverwaltung im Wirtschafts- und Ernährungsamt.
Ihr Arbeitszeugnis von 1945 lobt sie ausdrücklich: „Zur vollsten Zufriedenheit – zuverlässig, pflichtbewusst, gewissenhaft.“
Und sie war noch mehr als das – mutig.
Nach der Evakuierung überquerte sie mehrmals die „grüne Grenze“, um ihre Habseligkeiten und Bertas Nähmaschine aus Thüringen nach Hause zu bringen.

👑 Briefe an Prinzessinnen
Zwischen all den privaten Papieren tauchten später Karten auf – handschriftlich signiert von Herzogin Viktoria Luise von Preußen, Prinz Louis Ferdinand, Prinzessin Kira und sogar von Prinzessin Margriet der Niederlande.
Dele hatte tatsächlich über viele Jahre mit Mitgliedern des europäischen Hochadels korrespondiert – nicht aus Eitelkeit, sondern aus echtem Interesse an Geschichte, Familie und Herkunft.
Sie schrieb über Genealogie, über „große deutsche Familien“, über Tradition – und erhielt ehrliche Antworten.
Ihre Briefe sind Zeugnisse von Bildung, Stil und Haltung, geschrieben in einer Zeit, in der Frauen wie sie oft übersehen wurden.

🌿 Spuren von Glauben und Zärtlichkeit
Zwischen Telefonnummern und Adressen in ihrem alten Notizbuch fand sich ein einziger poetischer Einschub:
die erste Strophe des Weihnachtsliedes „Ihr Kinderlein kommet“.
Ein stilles Glaubenszeugnis mitten im Alltäglichen – so typisch für Dele:
praktisch und diszipliniert, aber mit einem Herzen, das an das Gute glaubte.
💫 Mein kleiner Sonnenschein
Sie starb 1969, als ich noch ein Kind war.
Aber seit ich ihre Briefe, Fotos und Worte wiederentdeckt habe, ist sie mir näher als je zuvor.
Ich sehe sie jetzt nicht nur als die ältere Dame auf vergilbten Bildern, sondern als junge Frau am Meer, als entschlossene Unternehmerin, als mutige Überlebende –
und als Mensch mit Haltung, Herz und Humor.
„Mein kleiner Sonnenschein“ –
so nannte sie mich.
Und heute, Jahrzehnte später, scheint ihr Licht noch immer.

